Dahoam im Arberland
 

Stadtlandfluss – oder mein Lauf zu mir selbst

Sind Erweckungserlebnisse immer positiver Natur? Als Moment, der ihr das Stadtleben ganz gründlich verleidet hat, schildert Charlotte Roche in der Süddeutschen ein Missverständnis im Straßenverkehr: „Ich biege mit dem Auto ab, mache einen Schulterblick, Fahrradfahrer kommt, ich halte an, Blickkontakt. Er schlägt mir trotzdem auf die Motorhaube, zeigt den Mittelfinger...“ Und ja, was er dann ruft, das wollen wir an dieser Stelle nicht wiederholen.

Ich (36, chronisch schuldbewusst) besaß während meiner Großstadtzeit glücklicherweise kein Auto. Bis heute bejubele ich urbane öffentliche Verkehrsnetze, die es uns erlauben, schon bei drei Minuten Verspätung nach Luft zu schnappen. Weniger zum Jubeln ist mir zumute, wenn ich an einen Oktoberfest-Feierabend im Jahr 2015 zurückdenke. Ich selbst war natürlich nicht auf der Wiesn, sondern versuchte, nach einem Tag in der Werbeagentur zurück zu meiner Freimanner Mansarde zu gelangen. Drei überfüllt vorüberziehende Sardinendosen später pressten sich die kostümierten Festbierleichen an mich. Während meine Mitreisenden zünftig schimpften und stöhnten, stieg in mir die blanke Angst hoch. Ich wollte nur noch weg – nicht nur aus der Bahn, sondern gleich aus der ganzen Stadt.

Ich bin als Arbeiterkind mit einer Leidenschaft für Tiere und Geschichten im Arberland aufgewachsen. Das liegt im Bayerischen Wald. Weil meine Großmutter aus Hessen kam und ich den Goethe-Park bei Kirschblüte gesehen hatte, studierte ich Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Frankfurt. Wenn ich davon erzähle, höre ich stets: „Frankfurt. Das ist ja vielleicht eine hässliche Stadt.“ Dann fühle ich mich persönlich angegriffen. In Frankfurt habe ich gelernt, wie man Straßenbahn fährt. Ich war im „Schauspiel“, in der „Komödie“, in der Oper, jedem noch so winzigen Kino, beim Headbangen in der „Cave“, beim Äppelwoi-Trinken in Sachsenhausen und habe die tollsten Leute kennengelernt. Damit konnten die anschließenden drei Jahre Berlin nicht konkurrieren. Mein einsames Plattenbau-Zimmer zog wie Hechtsuppe und zum Sattwerden befinden sich in so einem Startup-Obstkorb einfach zu wenige Bananen. Irgendwann wollte ich nur noch heim – zu meiner Familie, in die Natur, zu den vielen Sternen am Abendhimmel, deren Fehlen auch Charlotte Roche beklagt. „Da findest du niemals Arbeit!“, ätzte der innere Kritiker. Ich knickte also ein, nur um drei Jahre fast forward wieder am selben Punkt zu stehen, nicht an der Oberbaumbrücke, sondern der Haltestelle Münchner Freiheit. In der darauf folgenden Nacht träumte ich vom Laufen...

Ich liebe es. Früher in der Dämmerung auf Asphalt, bei zunehmender Sehnsucht nach Grün auch im Park. Seit ich meine Eltern wieder auf semikurzer Strecke besuchen konnte, genoss ich die Wanderwege bergauf, bergab rund um meinen Heimatort. Heute schnüre ich die Sneakers einige Kilometer westlich. Sie haben von Malerarbeiten an dem Einsiedler-Haus, das mein Partner und ich renovieren, bunte Tupfen. Ich steige nicht über eine, nicht über zwei, sondern drei Miezen und schnalle Huskyhündin Kaja um. Sie ist meine Laufpartnerin hier an der Flussbiegung des Schwarzen Regens. Bei uns gibt es immer etwas zu tun: Neulich haben wir mit vereinten Kräften aus der Nachbarschaft und Freunden des örtlichen Jugendfördervereins ein Stück Fels aus der Erde gestemmt. Die Kinder staunten. Alles ist bereit für die neuen Ziegen-Mitbewohnerinnen auf unserem Hobbyhof. Sollte der Corona-Sommer mit Lockerungen einhergehen, wollen wir auf der Veranda feiern, Outdoor-Konzerte im AdventureCamp auf der gegenüber liegenden Flussseite besuchen oder eben doch einen Katzensprung-Tagesausflug nach Passau oder Regensburg mit unserem Bulli wagen. Was den inneren Kritiker angeht: Mein Job als Pressebeauftragte der regionalen Kreisentwicklungsgesellschaft war nur eine Bewerbung von der U-Bahn entfernt. Ich vermelde offizielle Statements, schreibe Texte, schneide Imageclips und habe meine Kamera immer griffbereit. Auch dort wartet ein Obstkorb an der Rezeption. Ich bin allerdings nicht mehr auf Bananen angewiesen.